Du wirst dich gefragt haben, was wir damit meinen und wir werden Dir geantwortet haben, Du müsstest nur in Dich hineingehört haben. Tausend Fragen oder ein paar weniger, selten zählt mal einer nach. Seltener noch ist eine dabei, die Dich wahrhaftig angeht. Der ganze verdammte Rest liegt sanft begraben; unterm Flickenteppich der Beruhigungsunterhaltung liegen betäubte Zweifel gekehrt neben Staubwolken, Reihe für Reihe, als wäre weiter nichts los. So ist unser Leben, reden wir uns ein und hoffen dabei doch zu oft, wir mögen es uns selbst geglaubt haben. Wir irren, weil wir wandeln. Als es der ahnungsvollen Zweifel zu viele wurden, begann sich etwas zu regen in uns. Als Bewegung zunächst ziellos, richtete Zaraffel sich zeitig auf. Dies Heft, das Du in Händen hältst, wird die Verkörperung unserer Vision gewesen sein.
Ob es der Mühe wert gewesen sein wird? Die Tätigkeit des anderen zu verstehen, unter größtmöglichen Anstrengungen zu bezeigen, was denjenigen, der mit mir in Kontakt tritt, angeht, was ihn bewegt, was ihn ausmacht: das ist es, was sich für Zaraffel wahrhaftig anfühlt. Unsere Vision ist daher die der Korrespondenz und jeder, der sie teilt, ist Teil von Zaraffel. Ob es sinnvoll gewesen sein wird? Na unbedingt, es wird sogar nichts als Sinn gewesen sein. Scheinbar ist gerade alles zu haben, wenn nicht zum Sonderpreis, dann doch wenigstens mit überaus geringem Aufwand erhältlich. Ob Charisma, Charakter, Kreativität; Wissen wurde zu Information, und damit erwerbbares Gut; Anstrengung und jegliche vorangegangene Arbeit scheinbar überwunden. Der genusssüchtige Optimismus kauft sich frei von Mühe, während er sich weiterhin einredet, jede Zukunft sei möglich, nur noch nicht eingelöst. Bloß, die Zukunft wird kein verwerteter Gutschein gewesen sein. Es benötigt Zeit, Arbeit und Strebsamkeit – Hingabe – um hinnehmbare Ergebnisse zu erzielen und sowohl das, was hinter dem Ereignis steckt als auch das, was ihm vorausgeht, ist oft deutlich bemerkenswerter.
Das einst zwingende Spiel, der eingleisige Humor, ist also ernst geworden: Nur weil neue Antworten auf alte Fragen gefunden wurden, machte sie das nicht weniger fadenscheinig. Auch das Neue hat ein Recht darauf, kritisiert zu werden, und Recht ist notwendig, da ansonsten sich die längst verschwommenen Konturen relationsloser Kategorien wie „gut“ und „böse“ wieder einschärfen würden. Wir sehen niemanden mehr, der darüber ein für alle Mal urteilen könnte: Allein im anhaltenden Austausch kann es noch gelingen, zwischen den Aporien des Lebens zu vermitteln.
Gott war nur mal Kippen holen, doch kam nie mehr zurück. Sein Abgang, wenn auch von schwachen Geistern und Kindsköpfen anderer Gesinnung spöttisch begrüßt, war keineswegs versuchshalber oder auf Probe. Nietzsche vermisste ihn schrecklicher als viele nach ihm. Das Ziel, die zweckmäßige Handlung indes, war auserkoren worden, diesen Verlust zu kompensieren. Entwicklung und Fortschritt, ursprünglich noch von Gottes Gnaden, sollten nun ihren einstigen Gönner ersetzen; ein Fehlentwurf. Übrig blieb allein das Ziel um seiner selbst willen – die Bedeutung solch gestalteter Industrie ist heute so hohl wie das Zeichen, dem sie entsprungen war. Wie so manches unter den Teppich gekehrt wird, wurden dabei innere Prozesse der obsessiv verfolgten Entwicklung zu Unrecht vernachlässigt.
Nun müssen wir doch feststellen, dass sich unsere Erkenntnis derselben Illusion des Untergangs verdankt. Philosophen schrieben „causa causae est causa effectus“ und meinten damit, selbst unser Scheitern wäre nicht grundlos. Wir lassen es erst gar nicht darauf ankommen und werden noch heute tätig.
Warum, fragst du dich? Zaraffel wartet nicht in lethargischer Ewigkeit, im Komfort der glattkonstruierten Plastewelten des Digitalen. Wir müssen es tun, weil Ihr es nicht macht. Wir fühlen es auf unseren Schultern; auf unseren Armen und Beinen, auf unserer Generation lasten Generationen von Schulden, manche eingelöst und wieder andere nicht. Das meiste ist nicht Dein Problem, doch sei herzlich eingeladen, hier zu halten, die Reisekoffer stehen zu lassen und den Flug mit uns zu verpassen, sobald Du in dieser Wunderkammer voller Kuriosa einen Ansporn dazu gefunden hast. Lass mich versuchen, Dir in der Zwischenzeit aufzuzeigen, weshalb wir uns dafür verantwortlich fühlen wollen. Diese Verantwortung, welche sich für uns aus der Notwendigkeit heraus ergab, werden wir gemeinsam übernommen haben.
Mit Gott starb sowohl der Anspruch auf Moral als auch das perfekte Motto, ferner wurde die Wahrheit an sich verdächtig. An sich selbst zu denken ist als Handlung intellektuell oft notwendig und moralisch indifferent; Gemeinschaft aber entsteht nur dann, wenn für das Wesen ihrer Mitglieder gesorgt würde. Zaraffel wird denen Trost (παραμύθι) gespendet haben, die Mitleid als einzige Triebfeder moralischen Handelns begriffen haben.
Mitleid, moderner: Empathie, ist wie jedes Wort nur Träger derjenigen Botschaft, die sein Empfänger in der Lage ist herauszulesen. Unmittelbar geäußertes Mitleid wirkt deshalb oft künstlich, weil es selbst nichts mehr fühlt; diejenige Sprache, die man allgemein für eindeutig hielt, war längst umgewertet worden in ihr ironisch verzerrtes Gegenteil. Das natürliche Abbild des Mitleids, des sich Identifizierens, ist darum im Mittelbaren statt im Unmittelbaren zu suchen – im Text; doch mehr noch als die unmittelbare Kommunikation, steht die mittelbare als Vehikel zur Ausräumung falscher Eindeutigkeiten allein auf weiter Flur.
Wo konventionelle Sprache ebenso wie computer-mediated-communication zum aneinandergereihten Geschäftsverkehr belanglosester Information verkommen ist, verlautet das verdichtete Wort die Überwindung von Schluchten zwischen den einzelnen. Uneindeutigkeit auszuhalten ist der unumstößliche Gegenpol zur Fixierungssucht von Bedeutung in unserer immer komplexer werdenden Geschichte. Der Sinn, nach welchem wir streben, fällt nicht einfach aus seinen Buchstaben heraus, sondern muss innerhalb dessen, was er bedeutet, am äußersten Rand seiner Halbwertszeit, immer aufs Neue empfunden werden. Wir sind nicht naiv genug zu glauben, dieses sei ein konventionelles Problem, welches sich technisch lösen ließe.
Zaraffels responsiver Charakter verdingt sich seiner uneindeutigen Vielfalt. In einer erneuerten Literatur muss dieser Vision nach das Ineinanderspielen von Form und Funktion, ihrer historischen Entwicklungen nachspürend, bezeugt sein. Wo immer Distanzen zwischen Lesen und Schreiben überwunden werden, kommen wir zusammen, improvisieren und spielen wir. Unter solcher Definition entgeht auch dieses gedruckte Heft der Staubwüste der Beliebigkeit, allein da es sich ob seiner Materialität nicht in beliebigen Händen befinden kann; es spricht nur zu Dir und doch mit allen, die es lesen; mit allen, die es verstehen lernen wollen. Zaraffel wird sich seinem ambigen Sinn verschrieben haben.
Zaraffel hat keinen monetären Profit im Sinn, und doch verschenken wir nichts. Wir bieten nichts, das diejenigen leeren Symbole, denen wir uns tagtäglich ausgesetzt wissen, abpaust. Druckpreis und Almosen (ἐλεημοσύνη) sind das Signum dieser einzigen Politik, der wir uns qua Produkt anzubiedern bereit zeigen. Wer nichts hat, soll nehmen dürfen und wer geben will, der gibt. Es ist die Hoffnung auf das Kommende in positive Warenlogik übersetzt. Was wir euch nicht verkaufen, ist die Illusion, wir könnten uns die Druckkosten aus den Rippen scheuern.
Nicht allein darum wird man Zaraffel Opportunismus vorgeworfen haben. Der privilegierten Bürde unserer Handlungsfreiheit verpflichtet, belächeln wir diese Kritik herzlichst. Wir handeln heterogen, aus unterschiedlichsten Hintergründen heraus spinnen wir unsere Fäden, verweben unterschiedlichste Themen zu unterschiedlichsten Texten und Textsorten – ausschließlich bisher unveröffentlichtes Material. Dabei wird die Multiplizität unserer Einflüsse zwar von der Oberfläche unserer unterschiedlichen Erfahrungen her entworfen, gleichwohl bezeichnet der Mittelpunkt ihrer Schnittmenge jenen Grund, dessen Tiefe es gilt unter Aufwendung der größten Vorsicht zu ermessen, allmählich, rücksichtsvoll, lentement. Unsere gemeinsamen Koordinaten zu erkunden, wird unser Ziel gewesen sein, für dessen Umsetzung wir uns die Hilfe vieler Ähnlich-, Anders- und Weiterdenkenden ausrechnen.
Noch einmal: Was hier geschieht, erscheint uns notwendig; wir suchen, finden, haben alles und nichts. Wir wollen uns nicht politischen Richtungen oder Minderheitsdiskursen affiliieren, gleichzeitig sehen wir keinen Anlass darin, unsere historisch gewachsene Bedingtheit zu bestreiten. Privilegiert sein heißt, ein Problem ignorieren zu können. Zu jeder Tageszeit werden wir das „sowohl als auch“ dem „entweder oder“ vorziehen. Zaraffel ist kein Vektor, kein Pfeil, der, einmal abgefeuert, nie von seiner Bahn abkommt. An einem schönen Bahnhof auszusteigen, zu verweilen, zu lauschen, eine Kleinigkeit zu verstehen ist Zaraffel; ist: zu gleichen Teilen Ziel und Haltestelle seiner Welt. Zaraffel wird sich als radikal widersinnig beschrieben haben.
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Mirona C.,
Stella Chachali,
Chen-Rui Eising,
Erik Eising,
Georgios Dagkakis,
Tim Redfern